KulturProjekt

Professionalität in Sachen Geschichte

Aus dem Main-Echo Aschaffenburg vom 19. 2. 2000:

„Mit der Vergangenheit verantwortungsvoll umgehen“

Der in Kleinostheim tätige Historiker Erhard Bus über Möglichkeiten, lokale Identität in Gesellschaft
 und Wirtschaft mit Hilfe von Geschichtsschreibung zu ermöglichen

Kleinostheim feiert diesem Sommer sein 1025-jähriges Bestehen, Johannesberg sein 800. Jubiläum, Alzenau die Fertigstellung der Burg und die Verleihung der Stadtrechte vor 600 Jahren. In all diesen Kommunen wird deshalb in diesem Jahr der Geschichte gedacht. Kleinostheim veröffentlichte bereits im vergangenen Jahr seine zweite Orts-Chronik von dem Historiker Erhard Bus. Bus beließ es in seiner Forschungsarbeit nicht beim reinen Quellenstudium, erstmals im Kreis Aschaffenburg kommen in einer Gemeinde-Chronik zahlreiche Zeitzeugen der vergangenen 60 Jahre zu Wort. Bus selbst machte sich bei der Präsentation des Buchs im Dezember stark für eine Geschichtsforschung und -schreibung als Grundlage für eine lokale Identität. Mit Erhard Bus sprach Stefan Reis, wie dieses Fundament geschaffen werden kann

Redaktion: »Fortschritt mit Tradition« heißt die neue Kleinostheimer Orts-Chronik im Untertitel: Wie lässt sich Geschichte mit Fortschritt verbinden, damit für die Menschen im Ort ein nachvollziehbarer Bezug hergestellt wird?

Bus: Wir müssen von einem allgemein gültigen Begriff von Fortschritt - der positiven Weiterentwicklung - ausgehen. Wer das Vergangene außer Acht lässt, lässt auch vieles Positive außer Acht - und wird der älteren Generation nicht gerecht. Unabhängig davon sollte jede Kommune, gleich wie fortschrittlich sie sich gibt, eine gewisse Form von Identität aufweisen, die sie von anderen unterscheidet. Natürlich ist Identität für jede Gemeinschaft sehr wichtig und hat gleichzeitig sehr viel mit Geschichte zu tun.

Redaktion: Häufig beschränkt sich diese Identitäts-Darstellung in der Ortskerngestaltung auf das Renovieren einiger Fachwerkhäuser. Könnte - beispielsweise - in Kleinostheim »Identität« nicht im Gegenteil die Geschichte der Industrie darstellen?

»Neuen Heimatort vermitteln«

Bus: Die allerdings auch in Kleinostheim nicht vom Himmel gefallen ist. Man muss wissen, wie und wann etwas entstanden ist. Systematische Geschichtsarbeit kann gerade bei der Ortsbildgestaltung sehr viel leisten: In meiner Heimatgemeinde Windecken gab es umfangreiche Sanierungen mit öffentlicher Unterstützung für die Hausbesitzer. Da wurde überlegt, wie diese Sanierungen aussehen könnten. Sehr viele Gebäude waren mit Eternit abgedeckt, auf alten Aufnahmen dagegen war Fachwerk zu sehen: Der Architekt geriet damals aus dem Häuschen, als ich ihm die Aufnahmen gezeigt habe, weil bei rechtzeitiger Kenntnis dieser Dokumente viel Arbeit und Geld hätten gespart werden können.

Kleinostheim als Ort hat einen immensen Zuzug von außerhalb: Gerade deshalb ist Identitätspflege hier enorm wichtig. Beim Verfassen der Orts-Chronik war schön, dass sich viele Ältere aktiv einbringen konnten - gleichzeitig lässt sich aus den Erzählungen der Eingesessenen für Zuzügler etwas über den neuen Heimatort vermitteln. Schließlich wollen die Neuen sich in die Gemeinschaft eingliedern.

Redaktion: Besteht aber nicht generell die Gefahr, dass der Wunsch nach dem »schönen Alten« Geschichte verfälscht?

Bus: In den 60er / 70er Jahren gab es diesen Modernisierungswahn, dem vieles Alte zum Opfer gefallen ist. Dann kam in den 80er Jahren die radikale Kehrtwende bis zur Disneyland-Rekonstruktion. Eine allgemein gültige Aussage lässt sich sicherlich nicht treffen, da muss in jeder Gemeinde im Einzelfall entschieden werden.

»Wichtig Ist die Präsentation«

Redaktion: Welchen Beitrag für das Schaffen von Identität können Geschichtsvereine leisten?

Bus: Ergebnisse müssen nach außen präsentiert werden, die Bevölkerung muss einbezogen werden. Dann leisten Geschichtsvereine eine sehr wertvolle Arbeit.

Redaktion: Wie sieht die Grundlagenarbeit aus?

Bus: Das fängt ganz banal mit Fotosammeln und Zeitzeugeninterviews an oder beim Archivieren von Zeitungen. Dann kommt die Präsentation: Dabei muss es nicht immer gleich um ein Museum handeln, es kann auch eine Ausstellung oder eine öffentliche Veranstaltung sein. Da kann Jugend mit dem Alter zusammen gebracht werden. Wichtig ist in jedem Fall ein Forum zur Präsentation von Geschichte.

Redaktion: In Kleinostheim hat sich als Forum das Erzählcafé etabliert, wurde mit der Orts-Chronik auf die Erinnerungen von Zeitzeugen zurückgegriffen. Lässt sich mittlerweile sagen, dass Zugezogene in Kleinostheim über solche Aktivität neue Wurzeln ziehen?

Bus: Für eine Antwort ist es bestimmt noch zu früh. Ich denke aber, dass den Kleinostheimern eine Grundlage an die Hand gegeben wurde. Gerade die Interviews mit Zeitzeugen lassen sich noch ausweiten: Das ist ein für Geschichtsverein gut zu beackerndes Feld.

»Ein intaktes Biotop«

Redaktion: Sicherlich haben Sie als Historiker den Vorteil, in Kleinostheim mit seiner starken Vereinsstruktur und den beiden funktionierenden Kirchengemeinden bereits Identität stiftende Einrichtungen vorzufinden. Schwierig wird es doch in Gemeinden, in denen die Sozial-Struktur vor allem durch Anonymität auffällt?

Bus: In Kleinostheim findet man in weiten Teilen tatsächlich noch eine echte Gemeinschaft ein intaktes Biotop, das es zum Beispiel in den westlichen Kommunen des Main-Kinzig-Kreises in dieser Form nur noch selten gibt. Die Kleinostheimer waren auch sehr entgegenkommend und haben mitgemacht.

Natürlich, so etwas kann im Laufe der Zeit aufweichen. Da mache ich aber den Zirkelschluss: Der Umgang mit der Ortsgeschichte ist eine Möglichkeit, dieses Gemeinschaftsgefühl zu bewahren - und andere zu integrieren. In Kleinostheim hat jeder Verein sein Eigenleben bis hin zum eigenen Heim: Da sollte auch ein Dach für alle vorhanden sein, das die große Gemeinschaft Kleinostheim birgt. Hier ist auch die Kommune gefordert, genau wie beim Bau von Kindergärten und beim Ausbessern von Straßen.

»Rücksicht auf Mentalität nehmen«

Redaktion: Das schöne Bild vom Dach lässt sich auch auf größere Räume übertragen. Da führt jede Gemeinde ihr Eigenleben und konterkariert Geschichte, indem jede Kommune ihr Museum pflegt ...

Bus: ... und überall findet man mehr oder weniger die gleichen Ausstellungsstücke: Da muss man bei aller berechtigten Kritik allerdings auch Rücksicht auf Eigenheiten und Mentalitäten nehmen.

Defizite gibt es bei lokalen Museen in zweierlei Hinsicht: Zum einen findet keine Arbeitsteilung statt. Zum anderen haben sie häufig nur Sammlungs-Charakter und verfügen über keine didaktische Begleitung. Daneben sollte ein Museum nicht nur Ausstellungsraum sein, sondern auch ein Ort der Kultur. Da können unter anderem Vorträge, Diskussionen, Musik und Demonstrationen von altem Handwerk angeboten werden.

Wenn wir Rezepte von der Oma gesammelt haben, dann können wir im Museum auch - sofern möglich - eine Küche betreiben. Dabei sind diese Rezepte und das gemeinschaftliche Essen nicht nur Selbstzweck für eine gesellige Veranstaltung. Diese alten Gerichte vermitteln auch etwas über vergangene Zeiten. wenn man so will, handelt es sich hierbei um angewandte Sozialgeschichte. Man erfährt so beispielsweise, was unsere Vorfahren aßen, welche Zutaten es früher gab, wie gekocht wurde oder warum es notwendig war, für den Winter einzukellern. Das verstehe ich unter »lebendigem Museum«.

»Spaß gehört dazu«

Redaktion: So weit wird Geschichtsarbeit selten definiert. Sammeln und allenfalls noch analysieren des Gesammelten gilt als Haupttätigkeit in Vereinen. Ist es nicht gerade bei der didaktischen Arbeit sinnvoll, jene im Ort einzubeziehen, die zu den Sammlungen die entsprechenden Geschichten erzählen können? Auch das ist doch eine Art der Identifikation.

Bus: Das ist schon der übernächste Schritt beim Projektieren eines Museums. Häufig werden Museen sehr aufwendig eingerichtet, es gibt aber keine gescheiten Führungen.

Das Erzählen geht weiter, ist letztlich ein Eintauchen in die Geschichte. Natürlich ist hier die Frage individuell zu beantworten, wie ein Geschichtsverein personell besetzt ist und wie er seine Arbeit versteht. Letztlich ist das auch eine Angelegenheit von Historikern geworden, hier Hilfen zu geben. Ich habe beispielsweise zwei Dia-Vorträge, wie man lebendige Geschichtsarbeit leisten kann. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Geschichtsvereine in die Öffentlichkeit gehen - das aber nicht unbedingt nur lehrend. Spaß und Geselligkeit gehören auch dazu.

Das Bedürfnis nach Information über die Geschichte eines Orts ist in jedem Fall da, bei den Neubürgern häufig intensiver als bei den Eingesessenen. Und außerdem sollte man bedenken, dass unsere Bevölkerung immer älter wird, und bei vielen das Interesse für die Vergangenheit erst im Alter beginnt. Somit kann die Auseinandersetzung mit der Geschichte auch ein Stück Sozialarbeit für Senioren leisten.

 

»Ortsführungen für Neubürger«

Redaktion: Interessieren sich Neubürger eher wegen der Suche nach einer Wurzel oder aus intellektuellem Interesse?

Bus: Wohl aus beiden Gründen. Es ist ein Irrglaube, dass sich die Interessen der Bevölkerung am Ortsgeschehen auf Fußball und Feuerwehr beschränkten. Gerade deshalb sind die Kommunen gefordert.

Redaktion: In welcher Weise?

Bus: Da ist zunächst der finanzielle Aspekt, Kommunen können mit Geschichtsvereinen aber auch ganz praktische Angebote machen: Man geht her und lädt die Neubürger zu Ortsführungen ein und macht zum Abschluss einen kleinen Umtrunk mit den Mitgliedern des Geschichtsvereins im Bürgerhaus. Man gestaltet Ereignisse, Jubiläen beispielsweise, in ansprechender Weise.

»Selten als Standortfaktor erkannt«

Redaktion: Trägt das nicht den Ruch des Völkstümelnden?

Bus: Muss es nicht. Auch ein Festzug kann ernsthaft aufgebaut sein und trotzdem unterhalten. Doch auf ein bestimmtes Maß an Geschichtstreue ist zu achten. Da können auch Handwerker ihr Gewerbe vorstellen: Wer kann heutzutage noch flechten?

Letztlich muss sich eine Kommune sogar fragen, ob sie mit Geschichtsarbeit Fremdenverkehr fördern will: Da wird sie natürlich ihre Vergangenheit anschaulich darstellen wollen.

Redaktion: Erstaunlicher Weise wird dieser Gedanke selten als Standortfaktor in der Wirtschaftspolitik erkannt ...

Bus: ... was in der Rhein-Main-Diskussion ein ganz wichtiger Aspekt ist, wenn man Rhein-Main von Bingen bis Aschaffenburg definiert.

Für mich als Historiker ist da durchaus zu hinterfragen, ob es für diese Wirtschaftsregion historische Gemeinsamkeiten gibt: Das muss kein Jahrhunderte langer Zeitraum sein, das kann sich auch auf die letzten Jahrzehnte erstrecken, Aschaffenburg hat in jedem Fall seine Parallelen und seine Vergangenheit mit dem hessischen Rhein-Main-Raum, schon allein durch die Jahrhunderte lange Zugehörigkeit zu Kurmainz. Generell aber gilt: Mit Gewalt Identitäten schaffen sollte man nicht.

Geschichte kann ja tatsächlich zur Imagepflege werden in der Wirtschaft. Nehmen wir als Beispiel das Hanauer Rote Kreuz, neben dem karitativen Gedanken in seiner Struktur sicher auch ein Wirtschaftsunternehmen: Da habe ich ein Buch über die Geschichte dieser Einrichtung geschrieben, ein zweites ist als Auftrag in Arbeit - nicht zuletzt, weil's dem Image dient.

Auf der anderen Seite kann die Darstellung von Geschichte Wirtschaft in Schwung bringen. Wenn heute Standarddiskussionen geführt werden, wedeln die Bürgermeister gerne mit Hochglanzbroschüren mit viel Werbung und wenig über ihre Gemeinden. Warum soll man einem Unternehmer nicht die Ortschronik an die Hand geben, damit er sich ein detailliertes Bild von einem möglichen Standort machen kann – oder im Internet etwas über die Geschichte des Ortes in Erfahrung bringen können, wo eine Industrieansiedlung geplant wird?

»Besinnen auf Werte«

Redaktion: Ist die Zeit generell geschichtsfreundlich geworden?

Bus: Geschichtsfreundlicher als noch vor Jahren. Da sieht man schon an Äußerlichkeiten wie dem Erhalt von alten Gebäuden, auch an der Auseinandersetzung mit architektonischen Sünden der 50er und 60er Jahre - die heute nicht unbedingt abgerissen würden, sondern als Zeugnisse des damaligen Zeitgeistes erhalten geblieben wären.

Redaktion. Wir sind in einer Zeit der Schlagworte angelangt. Kann sich die Bedächtigkeit, mit der sich Geschichte letztlich auszeichnet, überhaupt auf Dauer halten?

Bus: Die Zahl der Museumsbesucher in Deutschland steigt beständig, die Auflagen von Publikationen zu Geschichte gehen hoch. Möglicherweise deutet das auf einen Gegeneffekt - auf das Besinnen von Werten - hin.

Redaktion: Bis hin zur Gastronomie, die statt Fast Food regionaltypische Produkte anbietet?

Bus: Wer sich auf regionaltypische auf überlieferte Rezepte besinnt leistet seinen Beitrag zu einer lebendigen musealen Arbeit. Und die Erfolge sind ja zu sehen.

Nur, man darf Vergangenheit nicht generell idealisieren und davon ausgehen, wie schön früher alles war. Wir müssen insofern mit Vergangenheit verantwortungsvoll umgehen. Damit wir uns - bleiben wir bei dem Beispiel - neben der Köstlichkeit regionaltypischer Speisen auch bewusst sind, wie schwer früher die Arbeit auf dem Feld war.

Wenn wir in naiver Weise die Vergangenheit nur idealisieren, tun wir unseren Vorfahren mehr Unrecht, als wenn wir sie ganz vergessen würden.

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© Erhard Bus, 2. 11. 2000